die Cape Flats, eine ganz besondere Erfahrung
Es mag sein, dass man mit geschickter und skrupelloser Rhetorik die historische Verantwortung für den Kolonialismus und dessen regionale Kollateralschäden aus dem kollektiven Gedächtnis herausfiltern, bzw. dieses medial so aufzubereiten versteht, dass wir Europäer dieses Kapitel historischer Verbrechen ohne allzu schlechtes Gewissen hinter uns lassen können. Was allerdings nicht zu leugnen sein wird, sind die weiterhin tiefgreifenden Spätfolgen der Apartheidpolitik, die offiziell erst in den 1990er Jahren abgeschafft wurde und die wohl ihrerseits ohne koloniales Erbe nicht so zustande gekommen wäre.
Alles nicht so schlimm? Es gibt ja große Fortschritte! Südafrika ist ja immerhin die zweitgrößte Volkswirtschaft auf dem afrikanischen Kontinent, nach Nigeria. Und da ist diese schillernde Metropole Kapstadt, mit seinen edlen Anwesen, hippen Stränden und einer High Society, die sich ohne Weiteres mit Nizza, St. Tropez, Miami Beach und anderen Szeneorten messen kann. Und diese grandiose Fußballweltmeisterschaft anno 2010! Was haben uns die Menschen dort nicht vorgefeiert. Ein fröhliches Volk, diese Menschen am Kap der guten Hoffnung.
Richtig! Aber hinter den Tafelbergen, die sieben sauberen, weißen Zwerge glänzen durch Absenz, da erstrecken sich die berüchtigten Cape Flats. Die Flats, das ist inzwischen eine Agglomeration von diversen Townships (als unmittel-bares Erbe der Apartheid und der damit verbundenen, menschenverachtenden Siedlungspolitik bis in die späten 1980er Jahre), in denen seit dem letzten Zensus 2011 noch nicht einmal gewiss ist, wie viele Menschen dort genau leben. Es heißt, eine genaue Erhebung der Bevölkerung sei unmöglich, es müssen aber rein statistisch schon mindestens an die vier Millionen Menschen sein, von denen die meisten ein von Arbeitslosigkeit und wenig Hoffnung geprägtes Dasein fristen.
In dem unübersichtlichen Gewirr von sogenannten Shacks (meist Wellblechhütten), teilweise inzwischen aber auch größer angelegten Siedlungen mit Vorort- oder Speckgürtelcharakter, zwischen Langa (dem ältesten Township) und Khayelitsha (ganz am unteren, südöstlichen Rand der Flats), bildet sich ein Nährboden für eine gesellschaftlich äußerst explosive Mischung aus Perspektivlosigkeit und Aggressionen. Treiber sind dabei ein Mangel an Beschäftigung, Drogensumpf, Prostitution, um sich greifende HIV–Epedemiewellen, innerfamiliärer Gewalt und Bandenkriege, um nur die größten Probleme genannt zu haben.
Eine geschätzte Arbeitslosigkeit von 75% (bei der sich die Frage aufdrängt, wie verlässlich diese Schätzung je werden kann, wenn schon der Zensus an der Basis versagt) macht das Leben in weiten Teilen der Elendsviertel zur reinen Zerreißprobe, beim Warten auf einen oft unnatürlichen Tod.
Mzu Lembeni, ein mutiger Bewohner von Khayelitsha und zugleich Unternehmer, bringt es mit einem Satz ganz gut auf den Punkt: „Hier zu leben, bedeutet für die Meisten, jeden Tag ums Überleben zu kämpfen!“ Und weil Mzu trotz all dieser Widrigkeiten, mit denen er seit seiner Kindheit umzugehen gelernt hat, im Grunde seines Herzens eine optimistische Frohnatur ist, hat er sich zum Ziel gesetzt, all das nicht einfach zu ertragen, sich auf keinen Fall dem Schicksal kampflos zu ergeben. Nein, Mzu möchte etwas verändern. Er möchte, dass vor allem die jungen Menschen in den Townships Perspektiven entwickeln können, echte Lebensperspektiven, jenseits der Reduktion von Bewohnern der Townships auf Transferempfänger.
Mzu setzt sich für jene ein, die für weniger als Mindestlöhne in Supermärkten Tüten packen, in den Straßen und auf den Parkplätzen der Stadt vermeintlich auf teure Luxuskarossen „aufpassen“ und dafür ein Gnadenbrot erhalten. Für uns privilegierte Menschen sind jene oft gar nicht sichtbar, deren traurige Existenz in den zahllosen Shebeens aus Dösen und Lebensschmerz ertränken in der täglichen Dosis Umqombothi besteht.
Es geht ihm dabei um Ausbildung, Qualifikationen, den jungen Menschen eine Chance auf zukunftsträchtige Berufe zu geben. An zwei konkreten Orten versucht Lembeni seine Ideen in die Tat umzusetzen: in Langa, dem ältesten Township, sowie in Khayelitsha, am östlichen Zipfel der Cape Flats. IMZU Tours nennt er sein Eigen und die erste Stufe seines ganz persönlichen Aufstiegsplans ist das Geschäft mit den Touristen. Mzu bietet Township–Touren an, in denen es um seriöse Begegnungen mit den Bewohnern der Townships geht. So zum Beispiel ist die erste Station das Langa Community Center, in dem Künstler ihre Werkstätten eingerichtet haben und Schüler zur Betreuung nach der offiziellen Schulzeit aufgenommen werden. Dieser Ansatz sieht nach Hoffnung aus, nach Aufbruch. Die zweite Station des Township-Rundgangs (wir bewegen uns zu Fuß auf offener Straße, und es kommt kein Gefühl der Angst auf) ist eine kleine Containersiedlung. Diese Siedlung wurde 1994 eigentlich als Provisorium für Bewohner aus Langa eingerichtet, die bei einem Brandunfall ihre Behausungen verloren haben. Die damalige Regierung hatte rasche Wiederaufbauprogramme von Häusern in Aussicht gestellt. 15 Jahre später leben die Betroffenen immer noch in Containern. Unter der Regierung von Jacob Zuma sind Aktivitäten zur Modernisierung von Townships zugunsten ausufernder Korruption vollständig zum Erliegen gekommen.
Wie sehr das Regime wütete, bringt unter anderem der Karikaturist Jonathan Brian Shapiro, bekannt unter dem Künstlernamen Zapiro, durch seine bissigen Zeichnungen zum Ausdruck. Er fokussiert mit seinen Werken vor allem auf das komplette Versagen der Regierung in Sachen Wirtschaft und der damit einhergehenden Wohlstandsförderung.
Hier in den Townships zeigt sich eine bittere Konsequenz: im Schnitt teilen sich Familien mit sechs Personen einen halben Schiffscontainer, also gut sechs Quadratmeter, ohne Heizung oder Klimatisierung. Bereits jetzt, im Frühsommer, bei geöffneten Türen und Fenstern, wird es in den Blechbüchsen sehr stickig. Hier in den Cape Flats geht es in einigen Teilen also noch nicht einmal um Wohlstandssicherung sondern in erste Linie um humanitäre Existenzsicherung. ◼︎